Norbert Niemann

Johannes X. Schachtner

Werke für Ensemble

NEOS-Music, 2016

In der Literatur gibt es den Begriff des poeta doctus. Er bezeichnet Schriftsteller, deren dichterische Auseinandersetzung mit ihrer Gegenwart auf präzisen Studien der Literaturgeschichte und ihrer ästhetischen Formensprache fußt – ohne dass für Leser dieselben Kenntnisse zwingend erforderlich wären. Überträgt man die Definition auf die Musik, kann man den Komponisten Johannes X. Schachtner einen musicus doctus nennen. Denn seine Kunst des Tonsatzes schöpft aus einer eingehenden Befragung der musikalischen Tradition.
Als wir uns 2009 kennenlernten, beeindruckte mich der damals 24-Jährige mit seinem stupenden Wissen und seinem außerordentlichen Reflexionsniveau. Aus einer Musikerfamilie über mehrere Generationen stammend, hatte der junge Dirigent und Komponist die Musikgeschichte so sehr verinnerlicht, dass jedes Gespräch mit ihm zu einer Erweiterung meines musikalischen Horizonts beitrug. Zu der Zeit hörte ich erste Stücke Schachtners, unter anderem eine frühe Fassung seiner „Kammersymphonie“, die hier in verdichteter Form als „Symphonischer Essay“ vorliegt. Unschwer erkannte ich den Beethoven-Bezug des Werks, dem zwei Takte kurz vor dem Ende der 8. Symphonie als Basis dienen.
Ich begann auch bereits etwas vom spezifischen Charakter der ästhetischen Haltung Johannes X. Schachtners zu ahnen. Seine Kompositionen setzen die Paradigmen der Neuen Musik, in deren Selbstverständnis der Bruch mit der Tradition eine essentielle Komponente darstellt, nicht einfach fort, sondern verhalten sich zu ihnen als Teil einer Kontinuität und jüngstem Abschnitt eines musikhistorischen Erbes. Der Bruch wird selbst Teil der Geschichte. Serialität und Spektralisierung des Klangs als zentrale Topoi der Neuen Musik gehören weiterhin zum tonsetzerischen Rüstzeug, werden allerdings derselben Befragung und Hinterfragung unterworfen wie ältere Ausprägungen musikalischer Formensprache. Dies geschieht in einer für Schachtners Technik signifikanten Verzahnung von Vergangenheit und Gegenwart, die weniger als Dialektik, mehr als eine Art Assoziationskontrapunkt miteinander in Austausch geraten.
Gerade diese Haltung des musicus doctus legt die Überarbeitung älterer Stücke im Sinn formaler Vertiefung nahe. Gegenüber der früheren Version wird in „Symphonischer Essay“ das irritierende Moment jener zwei Beethovenschen Takte durch Auffächerung der in ihnen komprimierten rhythmischen Figuren noch weiter getrieben und in ein musikalisches Prinzip überführt. Auf der Klangebene steht zugleich F-Dur als tonales Zentrum im Mittelpunkt der kompositorischen Auseinandersetzung, ohne jedoch zur Funktionsharmonik zurückzukehren. Die Tonart wird vielmehr als Material behandelt. F-Dur – genauer gesagt: dessen Charakter bei Beethoven – ist Reflexionsgegenstand dieses Orchesterstücks, weshalb auch klangliche Reminiszenzen aus der „Pastorale“ darin aufscheinen. In dieser assoziativen Verknüpfung der rhythmischen und klanglichen Fragestellungen zeigt sich deutlich der essayistische Ansatz Schachtners, seine musikalischen Gedanken in experimenteller Anordnung und mit offenem Ausgang gleichsam vor den Ohren der Hörer zu entwickeln.
Johannes X. Schachtner befragt nicht allein den Ton, den Klang, sondern die Geschichte, das Werk, das Zitat, also auch den Bedeutungsraum der Klänge und Motive in ihrem historischen Kontext. So kann auch F-Dur wieder Thema für ihn werden. Es gestattet ihm sogar das Tabu von Romantizismen zu übertreten. „Air – an Samuels Aerophon“ greift die Idee der langen Bläserakkorde aus dem Beginn von Richard Strauss‘ „Alpensymphonie“ auf. Vor der Etablierung der Zirkularatmung hatte Strauss den Einsatz einer Apparatur vorgeschrieben, die es mittels eines kleinen Blasebalgs und eines in den Mund eingeführten Schlauchs erlaubte die Töne länger zu halten, als das Atemvolumen reichte: Samuels Aerophon. Bei Schachtner wird in der klanglich-dynamischen Variation einer Holzbläserbesetzung plus Hörnern und Wagner-Tuben Strauss‘ programmmusikalischer Gedanke, das „Wesen der Nacht“ durch einen wie endlos gehaltenen Klang auszudrücken, aus seinem Symbolismus erlöst und als offene Form neubestimmt.
Die „Inventionen“ nehmen nicht zufällig die alte Gattungsbezeichnung auf, die vor allem mit dem Namen Johann Sebastian Bach verbunden ist. Die handwerklich inspirierte Tradition Bachs aufgreifend, versucht auch Schachtner sich die musikhistorische Formensprache gewissermaßen einzuverleiben und sie in eine eigene, gegenwärtige zu transformieren. Als Erfindungen im Wortsinn dehnt er in den Inventionen den essayistischen Ansatz auf außermusikalische Aspekte aus. In Invention III für Schlagzeug: „Hopscotch“ (das englische Wort für das Hüpfspiel Himmel-und-Hölle) erscheint zwar das Motiv des Hopsens etwa in der Pedalpauke mit ihren variierenden Tonhöhen, aber das spielerische Moment schlägt gegen Ende des Stücks um ins Gegenteil: So wird durch Beschleunigung und die Trommelwirbel der Snaredrum auch der moraltheologische Nebensinn im Namen des Spiels thematisiert. Invention IV: „Canon“, ein Klavierquintett mit Percussion-Ensemble, verknüpft die Form des Kanons mit der Idee der Flugbahn einer Kanonenkugel bis zu ihrem Einschlag, die durch Glissandi und permanente Temposteigerung klanglich zum Ausdruck kommt; das Beschleunigungsmotiv verweist aber auch auf die Komposition „Music of the Spheres“ der in den zwanziger Jahren aus Deutschland in die USA emigrierten Johanna Magdalena Beyer, der das Stück gewidmet ist. Es ist ein frühes Beispiel elektroakustischer Musik aus dem Kreis der amerikanischen Avantgarde um den jungen John Cage. „Invention V: Battery“ mit seinen Doppelinstrumentalisten ist als eine Art Instrumentierung von Schlagzeug-Gesten konzipiert: Jedem der vier Bläser ist ein Perkussionsinstrument zugeteilt, das er gleichzeitig bedient. Auch hier spielt Schachtner mit den Bedeutungsebenen des titelgebenden englischen Worts „battery“: Serie und Tätlichkeit akkumulieren durch aggressive Rhythmisierung zur musikalischen Attacke.
In den Vertonungen schließlich widmet sich Johannes X. Schachtner den Relationen und Korrespondenzen zwischen Sprache und Musik. Die „Quatre tombeaux de vent“ von Frédéric Wandelère sind schwebende Wortgebilde. Sie beschwören die Geister von Verstorbenen. Schachtners Werk für Sopran und Kammerorchester vermeidet jede Wortwörtlichkeit und findet im Verzicht auf Basslagen, in den knappen, wie impressionistisch hingetupften Phrasen dennoch Entsprechungen zur immateriellen Präsenz der geliebten Toten. In „Aufstieg“ hingegen, einer Ballade für Bariton und kleines Ensemble nach einem Libretto von Johanna Schwede, steht theatrale Expressivität im Zentrum der kompositorischen Aufmerksamkeit. Beides sind Studien zur Verklanglichung der Atmosphäre von Texten. Sie erweitern noch einmal das Repertoire eines essayistischen Verfahrens, das auf Kristallisationen und Manifestationen von Klangwelten abzielt, die sich zur Zukunft der Musik hin öffnen. Genau das gelingt Johannes X. Schachtner mit seinem Werk.