Norbert Niemann

Erschütterungen

Literatur und Globalisierung unter dem Diktat von Markt und Macht

Alfred Kröner Verlag (Einsichten Band 4)

Digitalisierung, Globalisierung und die alles dominierende Marktideologie haben ein Netz von Abhängigkeiten geschaffen, das so unüberschaubar geworden ist, dass der Mensch an die Grenzen seines Fassungsvermögens stößt. Ohne feste Bezugspunkte findet sich der Einzelne wieder in einer von Rissen und Abgründen dominierten Welt. Dieses Gefühl der Verwirrung, des Abgehängtseins, droht umzuschlagen in Primitivismus, der je nach Ausgangslage animistische, nationalistische, rassistische oder religiös fundamentalistische Züge aufweist – mit entsprechenden Konsequenzen für das Realitätsbild, die Daseinsentwürfe und das soziale Miteinander der Menschen.

Nicht so in der Literatur. Was uns zu schaffen macht, ist vor allem, dass wir das Gefühl, das uns zu überwältigen droht, nicht fassen, nicht artikulieren können. Was ist es genau, das diese Haltlosigkeit hervorruft? Was weckt in uns das Gefühl der Isolation? Die Literatur aber ist nach wie vor in der Lage, zum Kern der Dinge vorzudringen, indem sie eine Sprache für sie (er)findet. Indem der Schriftsteller Norbert Niemann die Literaturen der Welt betrachtet, eröffnet er auch uns die Möglichkeit, die Welt, wie sie sich uns darbietet, etwas besser zu fassen zu bekommen.

Textauszug

Einleitung:

Die Entwicklungen in der Literatur der letzten Jahre sind so spannend wie seit Langem nicht mehr. Nirgends ist das Zusammenleben der Menschen von den Folgen der Globalisierung und der Digitalisierung verschont geblieben, überall auf der Welt erzählen Schriftsteller von diesen Folgen, dem Leben in einer veränderten sozialen Wirklichkeit.
Als ich begann, die Prosa der internationalen Kolleginnen und Kollegen mit einer gewissen systematischen Beharrlichkeit zu lesen, stellte ich schnell fest, dass die Realitäten, die aus den weltumspannenden Umbrüchen seit 1990 erwachsen sind, viele von uns offenbar vor literarisch neu zu bewältigende Aufgaben stellen. Denn so unterschiedlich die regionalen und historischen Bedingungen an den jeweiligen Schauplätzen sind, spiegeln die Geschichten darüber doch alle die gesellschaftlichen Auswirkungen auf das individuelle Los der Menschen durch jene Machtverschiebungen wider, die von den neuen Technologien, der Dominanz der Märkte und der damit einhergehenden Trennung von Herrschaft und Politik in Gang gesetzt wurden.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen aber, so meinte ich ebenfalls bald beobachten zu können, haben sich aber auch erzählerische Formen gewandelt. Vielleicht mussten sie sich notwendig wandeln, um die Eigenheiten einer neuen Epoche der Machtausübung, in der Regierungen von den Interessen weltumspannender Wirtschaftskonzerne beherrscht werden, darstellen zu können. Gleichzeitig entdeckte ich überall Berührungspunkte zwischen den Erzählweisen, unabhängig aus welcher Weltregion, welchem politischen System die literarischen Werke stammten. Womöglich, dachte ich, sind mit der massiven Ausweitung transnationaler Marktstrukturen unter dem Primat des Ökonomischen nicht nur die nationalstaatlich geprägten Gesellschaftsformen, sondern auch die an Nationen oder Sprachräume rückgebundenen literarischen Topographien im Begriff, in eine Art Weltsprachraum überzugehen. Und ich fragte mich immer öfter: Gibt es so etwas wie eine neue internationale Ästhetik?
Dabei hätte ich von diesen Vorgängen in der Literatur beinahe nichts mitbekommen. In der deutschsprachigen Öffentlichkeit blieben sie in den vergangenen zehn oder fünfzehn Jahren jedenfalls so gut wie unreflektiert. Und wo doch der eine oder andere Roman Beachtung fand, der sich mit der gewandelten Realität auseinandersetzte, wurde er aus der literarischen Produktion eines Landes herausgepflückt und als singuläres Produkt in den buchhändlerischen Warenzyklus eingespeist, wo ihn bald das unerbittlich weiterrasende Saisongeschäft wieder ins Vergessen stieß.
Es waren zwei Impulse, die einander befeuernd meine Suche nach einer Literatur über die globalisierte Welt ausgelöst haben. Zum einen fühlte ich mich im Laufe der Jahre vom Großteil der im Literaturbetrieb gefeierten deutschsprachigen Bücher nur selten noch angesprochen und mit Blick auf die Kriterien, aufgrund derer sie gepriesen wurden, auch geistig immer weniger in der hiesigen literarischen Öffentlichkeit beheimatet. Gleichzeitig tauchten Werke, die mich etwas angingen, meist nur kurz an den Rändern der medialen Aufmerksamkeit auf und wurden dort überdies unter Gesichtspunkten betrachtet, die ich mit Sinn und Form dieser Werke kaum in Einklang bringen konnte. Dies hat wohl in erster Linie mit einem seit einiger Zeit fast flächendeckenden Literaturbegriff zu tun, der etwa der Herkunft oder Skandalträchtigkeit von Autoren und anderen, verkaufsfördernden außerliterarischen Aspekten mehr Bedeutung beimisst als der ästhetischen Bewältigung eines Stoffes und seines Bezugs zur Zeitgenossenschaft.
Meine Poetologie hingegen, deren zentrales Anliegen in der öffentlichen Wahrnehmung von Literatur offenbar zunehmend ausgeblendet und deren kulturelle Legitimation mehr und mehr marginalisiert wird, sieht sich in der Tradition eines Selbstverständnisses, das auf einem von äußeren Ansprüchen und Übergriffen, sei es der Politik oder der Religion, einer Ideologie oder von materiellen Interessen, möglichst unabhängigen Schaffensprozess gründet. Ich habe die Aufgabe von Kunst immer begriffen als einen Akt der Annäherung an eine Gegenwart, der laufend die Sprache abhandenkommt.
Künstlerische Ästhetiken ändern sich, weil gesellschaftliche Realitäten sich ändern. Im Wandel ihrer Ausdrucksformen artikulieren sich diese Veränderungen. Die vorhandenen Zeichensysteme reichen dann nicht mehr aus, um zeitgenössische Lebenswirklichkeit einzufangen; gleichzeitig hören die Übergriffe von außen nie auf, findet die Macht immer neue Wege, sich der Zeichen und Wörter zu bemächtigen und sie für ihre Zwecke einzuspannen. Doch ebenso wenig hören Schriftsteller auf, sich dieser Überwältigung mit den Mitteln der Kunst zu entziehen und den Freiraum des Geistes neu zu gestalten. Schöpferische Autonomie spiegelt ihre Widerständigkeit. In der Literatur geht es darum, Sprache immer wieder neu zu erfinden, statt das nachzuahmen, was nicht mehr in der Lage ist, dem jeweiligen instrumentellen Zugriff zu entkommen. Sie rückt den Zumutungen des Realen mit der Gegenmacht der Worte zu Leibe.
Sehr wenig davon finde ich noch im gegenwärtigen literarischen Diskurs – sofern von Diskurs überhaupt noch die Rede sein kann. Ich wurde daher von der existentiellen Notwendigkeit angetrieben, mich meines geistigen und künstlerischen Umfeldes zu vergewissern, das eben im öffentlichen Raum nur noch äußerst fragmentiert sichtbar wurde. Ich musste herausfinden, ob es hinter dem jahraus, jahrein von Rezensionen und Literaturbeilagen gefütterten, von Verlagsprogrammen und den Auslagen in den Buchgeschäften favorisierten, von Rankinglisten und Wettbewerben dominierten belletristischen Mainstream eine andere, verborgene, übersehene Art von literarischem Leben gab, eines, das sich seine ureigenste Bestimmung nicht hatte austreiben lassen, der eigenen Zeit mittels Sprache auf den Grund zu gehen – und war binnen Kurzem gerettet und wieder aufgehoben.
Der zweite Impuls verdankt sich einem Privileg, das mir andere Informationsquellen über weltliterarische Entwicklungen leichter zugänglich macht als all denjenigen, die gänzlich von den Institutionen des Literaturbetriebs abhängen. Mein Beruf als Schriftsteller bringt es mit sich, dass ich vielen Kolleginnen und Kollegen im In- und Ausland begegne, mich über ihre literarischen Anliegen, ihre poetologischen Konzepte und ihre jeweiligen Lektüreerfahrungen austauschen kann. Von dorther kamen viele Hinweise, die mir Wege aus den unfruchtbaren Zonen hiesiger Literaturrezeption wiesen. So ist mir etwa während eines Stipendienaufenthalts in Krakau Dorota Masłowska als Stimme der jungen polnischen Literatur nahegebracht worden. In Petersburg lernte ich Zakhar Prilepin, in Moskau Alissa Ganijewa bei deutsch-russischen Autorentreffen kennen. Teju Cole traf ich beim Münchner Literaturfest 2013 – wie ich überhaupt etliche Anregungen dem in diesem Jahr von Dagmar Leupold kuratierten Autorenforum verdanke, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, einen internationalen Querschnitt zeitgenössischer Literatur nach München zu holen. Ohne die Lesungseindrücke von Ling Xi, Jeet Thayil oder Alain Mabanckou wären mir vermutlich wesentliche Aspekte für das Thema dieses Essays entgangen.
Der Hauptteil meines Essays beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Globalisierung auf das konkrete Leben der Menschen, so wie sie in der erzählenden Prosa gezeigt und literarisch umgesetzt werden. Er nimmt selbstverständlich auch Beispiele aus dem deutschen Sprachraum hinzu, insofern sie für deren belletristische Darstellung von Belang sind und mit der internationalen ästhetischen Entwicklung korrespondieren. Als formales Konzept habe ich eine Art Spiegel-Modell gewählt: Die Themenblöcke, die sich während der Lektüre allmählich herausgeschält haben, werden von Büchern aus unterschiedlichen Weltregionen und/oder konträren politischen Systemen her betrachtet. Sie beleuchten diese Themen wechselseitig von scheinbar unvereinbaren Standorten aus und stellen so jenen Zusammenhang her, den der Globalisierungsprozess den Menschen aufgezwungen hat.
Ein Merkmal, das mir als verbindendes Element zwischen den internationalen Büchern sofort ins Auge fiel, war die eigentümliche Weise, in der sich in vielen von ihnen die Schilderungen einander widersprechender Lebenswelten und Lebenswirklichkeiten schicht- oder schollenförmig übereinanderlagerten oder ineinanderschoben. Aus welchem Land die Autoren auch stammten, in welchen Weltregionen ihre Geschichten auch spielten, fast immer fand ich in sich zerrissene Erlebnissphären, nebeneinander existierende, auch feindliche Realitäten. Ihre Erzähltechnik schien mir eine Welt einzufangen, die in unverbundene, teils auseinanderdriftende, teils kollidierende Fragmente zersprengt war. Von diesem ersten Befund her ergaben sich dann nach und nach alle weiteren Beobachtungen.
Dem Hauptteil fügt sich notwendig ein zweiter Teil an, der jener Frage nachgeht, die mich während meiner Beschäftigung mit der Globalisierung im Spiegel der internationalen Literatur bald ständig begleitete: Welche Auswirkungen haben diese Entwicklungen auf die literarische Öffentlichkeit selbst? Nicht zuletzt der Umstand, dass die hierzulande bevorzugte Belletristik und die Liste ästhetisch für die Gegenwart relevanter Bücher, die sich bei aus meiner Recherche allmählich ergab, in nur wenigen Punkten übereinstimmten, ließ in mir den Verdacht aufsteigen, dass der gegenwärtige Literaturbetrieb davon nicht unberührt geblieben sein kann.
Warum auch sollte ausgerechnet jener Ort von den regulativen Mechanismen des Marktes verschont geblieben sein, an dem traditionell die freie intellektuelle und künstlerische Auseinandersetzung außerhalb des Zugriffs der jeweiligen Macht gepflegt wird? Hält die These stand, dass die Marktwirtschaft im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung einen essentiellen Teil der Herrschaftsmacht an sich gerissen hat und die Institutionen der Politik unterläuft, wird sie wie alle nicht-demokratischen Arten der Machtausübung gerade vor den Foren des Geistes nicht Halt machen. Wenn diese Foren aber gleichfalls dem Diktat der Ökonomie unterworfen sind, was bedeutet das für die geistige Freiheit einer Gesellschaft? Beim Blick auf den ökonomisierten Literaturbetrieb kommt es folglich darauf an, nicht allein die strukturellen Veränderungen in Buchhandel, Verlagswesen, Kulturredaktionen, Universitäten oder im Deutschunterricht und deren Auswirkungen auf das Leseverhalten ins Visier zu nehmen, was in der Vergangenheit nicht zuletzt aus marktimmanenten Gründen immer wieder getanmacht wurde. Darüber hinaus gilt es herauszuarbeiten, inwieweit die kritische Bewertung und Kategorisierung von Literatur heute selbst einer mehr oder weniger bewussten Ideologisierung unterworfen ist.
Meine zweite Frage lautet also: Gibt es eine vom Markt und von Globalisierungszwängen diktierte Ästhetik? Haben sich so etwas wie ökonomistische Raster etabliert, die über Texte gelegt werden, ihnen ihre Lesart überstülpen und über das Quantum an öffentlicher Aufmerksamkeit entscheiden, das ihnen gewährt wird? Wie stark verinnerlicht sind diese Raster, wie massiv ist der konkrete, unmittelbare Eingriff durch Verlage und literarische Öffentlichkeit?
Die Zweiteilung dieses Buches ist angeregt von Walter Benjamins Nachwort von 1936 zu seinem Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit", der berühmten Gegenüberstellung einer Ästhetisierung des Politischen im Faschismus und einer Politisierung der Kunst im Kommunismus. Anders als bei Benjamin liegt meinem Begriff einer ›Politizität der Kunst‹ keine Anbindung an eine politische Ideologie zugrunde, insofern ein Politikbegriff, der aus einer Vorstellung von Demokratie als Utopie entwickelt ist und die Basis für eine offene Gesellschaft bildet, als nicht- oder prä-ideologisch gelten kann. Die Gefahr, die Benjamin angesichts der Instrumentalisierung des Ästhetischen während der Olympischen Spiele in Nazi-Deutschland beschwört, ist gleichwohl dieselbe, die in Zeiten der Überformung der Künste durch einen sich zunehmend totalitär gebärdenden Markt anzumahnen ist: »Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genussß ersten Ranges erleben läßt.«
Die Nachbetrachtung widmet sich schließlich der Frage, welche Konsequenzen sich für eine demokratische Gesellschaft die unkontrollierte Übernahme des geistigen und kulturellen Raumes durch die Strategien der Vermarktbarkeit für eine demokratische Gesellschaft hat und wie ihnen entgegengesteuert werden kann. Dem Charakter nach ist dieser Essay daher zweifelsohne auch eine Streitschrift. Er versucht den alten Kampf gegen die Unterdrückung der Andersdenkenden unter den neuen ökonomistischen Herrschaftsbedingungen einer globalisierten Welt wieder aufzunehmen. Aber er lebt nicht von der Illusion, in einer bereits nahezu diskursfreien literarischen Öffentlichkeit einen Diskurs in Gang setzen zu können. Vielmehr begreift er sich als Flaschenpost, die Hinweise zu enthalten hofft auf eine andere als die kommerzielle Betrachtungsweise von Literatur. Er erhebt auch in keiner Weise den Anspruch auf Vollständigkeit oder lückenlose Übersicht (ein von vornherein unmögliches Unterfangen), sondern folgt den Spuren eines leidenschaftlichen Lesers, der die Texte seiner zeitgenössischen Kollegen nach auf ihrer gelebten Gegenwart hin befragtenden Lesers. Nicht-kommerzielle Prosa, die sich für gesellschaftliche Aspekte nicht interessiert oder sich bewusst von jeder politischen Perspektive abwendet oder sich auf traditionelle Darstellungs- bzw. Genreformen zurückzieht – und die natürlich ebenfalls geschrieben und publiziert wird –, findet darin keine Berücksichtigung. Meine Absicht ist es, »aus der Differenz immer wieder den gemeinsamen Kern herauszuschälen«, um von dort aus Differenz überhaupt erst sichtbar und verständlich zu machen. Geschrieben ist der Essay dabei nicht aus dem methodisch abgesicherten Blickwinkel eines Wissenschaftlers, sondern aus dem eines Schriftstellers, der sich des literarischen Orchesters versichert, in dem er selbst als Instrumentalist unter vielen sitzt, und der ausprobieren will, wie sich dieses Orchester im Zusammenklang anhören könnte, wenn kein vom Markt bestellter Dirigent es leiten würde.

Taschenbuch, Kröner, Verlagsseite
E-Book, Berlin Verlag