Lass dich nicht täuschen

The Talking Heads

Die „Talking Heads“ waren die letzte Band, die mir wirklich etwas bedeutete, bevor ich mich von der Popmusik verabschiedete. Sie tauchten am Ende meiner Jugend auf, während der ich die Entwicklungen in der Popmusikszene unablässig verfolgt hatte. Ständig suchte ich seinerzeit den Horizont des Pophimmels nach Zeichen ab für meine Einstellung zur Welt.

Die „Talking Heads“ markierten einen Übergang. Ungefähr seit meinem 23.Lebensjahr hielt ich nach solchen Zeichen anders und vermehrt auch woanders Ausschau. Auch beim Hören von Songs wie „Once in a Lifetime“, „Houses in Motion“, „Listening Wind“ richtete sich bereits, zunächst beinahe unmerklich, meine Aufmerksamkeit immer mehr auf die Texte und die konzeptionelle Seite der Musik.

And you may find yourself living in a shotgun shack
And you may find yourself in another part of the world
And you may find yourself behind the wheel of a large automobile
And you may find yourself in a beautiful house, with a beautiful wife
And you may ask yourself: Well … how did I get here?

Liedzeilen wie diese schlugen mich in Bann. Sie funktionierten komplett verschieden zu dem, was ich bisher in Popsongtexten wahrgenommen hatte. Sie glichen eher moderner Lyrik, auf ganz andere Art als zum Beispiel Bob Dylan-Texte. Aus Dylans Versen redete immer Dylan, mochte er seine Sprachbilder aus noch so entfernten Bedeutungsräumen nehmen. Wer aber redete in den Zeilen von David Byrne?

Bei Toni, glaube ich, hörte ich die “Talking Heads” zum ersten Mal. Wir waren gerade dabei, eine neue Band zu gründen. Toni und ich brüteten die Stücke in ihren Grundzügen aus. Der Rest entwickelte sich im Probenraum. Toni war mehr für die Lyrics zuständig, ich kümmerte mich hauptsächlich um die musikalische Umsetzung. Wir sangen deutsch. Erst gegen Ende meiner Zeit bei „Diebe der Nacht“ wagte ich mich selber ans Texten, mit im Vergleich zu Tonis oft brillanten Zeilen noch recht wackligem Resultat.

Eigentlich hatte ich Pop schon hinter mir gelassen. In den späten Siebzigern trennte ich mich von meiner ersten Band. Ich wollte mit den rockigen Selbstdarstellungsgesten nichts mehr zu tun haben. Etwas stimmte da nicht, ich wusste noch nicht genau was, entdeckte den Jazz für mich, bei dem die Musik im Vordergrund stand, nicht die Musiker. Das damals übliche Möchtegern-Star-Getue ging mir schwer auf die Nerven. Ich nahm Unterricht, schlug mich herum mit den Problemen von Funktionsharmonik und Modalität, den Quarten, verminderten und erweiterten Intervallen des Bebop. Ich studierte die Gitarrentechniken von Wes Montgomery, Jim Hall, John Scofield, James Blood Ulmer. Meine Vorbilder hießen John Coltrane, Miles Davis, Eric Dolphy, Thelonious Monk. Ich ging auf Jamsessions, spielte Sets aus dem „Real Book“. Aber ich fand die Atmosphäre in den Jazzer-Zirkeln mit der Zeit immer spießiger. Auch hier, stellte sich bald heraus, beherrschte Eitelkeit die Szene. Virtuosentum drängte sich vor. Es war die Zeit der Geschwindigkeitsräusche auf Griffbrettern, über Saxofonklappen und Tastaturen, der heroischen Bewältigung kompliziertester Harmoniefolgen. Wer schaffte die flüssigste Improvisation über „Giant Steps“ oder „Donna Lee“?

Die „Talking Heads“ traten genau zu dem Zeitpunkt in mein Bewusstsein, als ich zum Pop zurückkehrte. Vielleicht weniger blauäugig und naiv. Mit ein paar Musikern, die ich an der Uni kennengelernt hatte, riskierte ich einen Neuanfang. Zu Beginn der achtziger Jahre war der Rebellenton des Rock’n Roll endgültig zum Klischee erstarrt, aber natürlich nach wie vor wirksam. Als „Diebe der Nacht“ wollten wir Klischees als Klischees auf die Bühne bringen, aber weder zynisch noch mit totaler ironischer Distanz. Die Codes des Systems, so lautete die zeitgemäße Formel, hatten schließlich auch uns im Griff. Auch wir waren ihnen ausgeliefert, auch wir tappten in ihre Falle.

Bei den „Talking Heads“ entdeckte ich: Eine musikalische Form, die mit ihrer oft hektisch oszillierenden, pingpongartigen Stimmführung einen „Wall of Sound“ erzeugte, in dem sich mein Lebensgefühl spiegelte. Ein unprätentiöses Auftreten jenseits aller Starattitüde. Und Texte, die auf eine merkwürdig ungreifbare, dennoch plausible Weise zum Ausdruck brachten, worum es auch uns ging.

Der Bandname „Talking Heads“ bezog sich auf die „sprechende Köpfe“ der Nachrichtensprecher, Moderatoren, Reklamegesichter im Fernsehen. Die Songzeilen klangen, als kämen sie aus den Mündern eben solcher „sprechenden Köpfe“, aber irgendwie schwang gleichzeitig eine zweite, verborgene Sinnebene mit.
„Snap into position”, “Bounce till you ache”, „Stop making sense“– Wie war das nun gemeint? Wer sollte aufhören, Sinn zu produzieren? Was redeten diese Stimmen in uns hinein, durch uns hindurch? Solange, bis wir dieselben Sätze redeten? Die Textpartikel dieser Songs waren in der Tat den Botschaften aus den Medien nachgebildet – nicht zuletzt auch den Botschaften aus dem Popgeschäft. Sie berührten den wunden emotionalen Punkt unserer Selbstvergewisserungssehnsucht: Sei frei, glücklich, sexy, wütend und vor allem: individuell.

Sei ganz du. Was geschieht mit dir, wenn fremde Zungen aus dir von deiner Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit sprechen? Was für eine absurde mitgeplapperte Einzigartigkeit ist das dann?

„Stop making sense“ – im gleichnamigen Konzertfilm schlägt sich Sänger David Byrne, gekleidet in einen überdimensionalen Herrenanzug (er sieht darin aus wie die Comic-Karikatur eines Bankers), immer wieder mit der flachen Hand an die Stirn. Er singt: „Same as it ever was“/Schlag/ „Same as it ever was“/ Schlag/ “Same as it ever was”. Als brächte er die Plattennadel in seinem Schädel zum Hüpfen, so dass sie immer wieder die gleiche Stelle abspielt. Hier wurde plötzlich eine Art Brecht-Theater unter Popbedingungen gespielt, statt eine Selbstinszenierungsorgie abgefeiert.

Der Sprechgesang in „Seen and not seen“ von der LP „Remain in Light“ umkreist das Thema, das Konzept der Band: Jemand sieht die schönen Gesichter im Fernsehen, in der Werbung usw. und beschließt, „by force of will“, sein Gesicht diesen Gesichtern anzugleichen. „The chance would be very subtle … It might take ten years or so“. Bald kommt ihm jedoch der Gedanke, dass alle Leute um ihn herum genau dieselbe Selbstumformung betreiben. „Maybe they imagined that their new face would better suit to their personality … Or maybe they imagined that their personality would be forced to change to fit the new appearance.“ Schließlich fragt er sich, ob bei diesem Prozess Fehler unterlaufen können, ob womöglich auch er einen Fehler gemacht habe.
„Speaking in Tongues“ hieß folgerichtig die nächste Platte. Mehr denn je waren die Songtexte assoziativ zusammengebaute Scheincollagen mit sprechblasenartigen Appellen: „It’s always showtime“, „I’m driving in circles“, „I got a girlfriend that’s better than that“. Sätze wie die Filmstills aus der Fotoserie von Cindy Sherman. Als Hörer kam man aus dem Zustand der Verwirrung nie ganz heraus: Was eigentlich meine ich, und ist das dann überhaupt MEINE Meinung? Dazwischen gab es fast philosophische Sentenzen wie diese:

Everything is divided
Nothing is complete
Everything looks impressive
Do not be deceived

Lass dich nicht täuschen. Ab Mitte der Achtziger erlosch allmählich meine Begeisterung für die Band. Ihre Platten wurden kommerzieller, 1991 löste sie sich auf nach unschönen Streitereien zwischen den Mitgliedern. Die „Talking Heads“, so schien es, hatten sich selbst widerlegt. Doch insgesamt nahm die Popmusik eine Richtung, die mich immer weniger interessierte. Ich trennte mich von „Diebe der Nacht“, wandte mich der Literatur zu. Die intensive Beschäftigung mit den „Talking Heads“, glaube ich im Nachhinein sagen zu können, war der erste Schritt auf dem Weg zu dieser Entscheidung.

in: Punk Stories, hg.v. Thomas Kraft, Alexander Müller, Arne Rautenberg 2011