Zum Verhältnis von Kultur und Politik in Deutschland
Eröffnungsrede zum Forum "Culture and Politics" in Kairo
1.
In meinem Arbeitszimmer gibt es eine große Pin-Wand. Dort hebe ich Zeitungsausschnitte auf, Zitate, Bilder, Flyer, Pressefotos usw. , so dass eine sich ständig verändernde Collage aus lauter scheinbar unzusammenhängenden Fundstücken entsteht. Es ist eine Sammlung von kleinen Beobachtungen oder Merkwürdigkeiten. Ich will sie um mich haben, immer wieder einen Blick auf sie werfen, weil ich finde, dass sie in der tagtäglichen Flut der Informationen etwas auf den Punkt bringen. Als wäre der mediale Strom angehalten und zu einzelnen Augenblicken oder Gedanken geronnen, veranschaulichen und verdichten sie für mich etwas von der Dynamik dessen, was mich als gesellschaftliche, politische, kulturelle Wirklichkeit umgibt, auf mich einwirkt. Gleichzeitig beleuchten und vertiefen sich diese Fragmente gegenseitig, wenn sie nebeneinander an dieser Pin-Wand heften. Zusammenhänge oder Unterschiede werden plötzlich augenfällig, die ich anders nicht bemerkt hätte.
Vor zwei Wochen erschien in einer deutschen Tageszeitung ein großer Artikel über die neuerlichen Kämpfe am Tahrir-Platz, mit Fotos von Demonstrierenden zwischen den Textspalten. Die Aufnahmen zeigen sechs Ägypter mit improvisierten Masken – Ski-, Taucher- Schutzbrillen und Gasmasken. Darunter sind zwei Frauen mit Kopftüchern, ein Mann mit Anzug und Krawatte, einer, der sich die Nasenlöcher mit Papier verstopft hat, und einer, dessen linke Gesichtshälfte dick mit Mull verbunden ist. Ein weiterer hat sich einen Blecheimer über den Kopf gestülpt, unter dem nur die Gasmaske hervorschaut, so dass er der Figur Darth Vader aus dem Film „Krieg der Sterne“ ähnelt.
Die Fotos landeten auf meiner Collage-Wand, fanden Platz neben einem Pressefoto, das seit über einem Jahr dort hängt. Darauf sind ein halbes Dutzend alter Männer aus Deutschland zu sehen, die auf einem Parkplatz zwischen Autos in Supermarkt-Einkaufswägen sitzen. Sie sind bis auf die Unterhose nackt. Vorne über den Eisengittern baumeln ihre dürren bleichen Beine. Das Bild stammt aus einer Fernsehsendung, in der sich Arbeitslose und Sozialbedürftige für ein paar Euro und für ein paar Minuten fragwürdiger Aufmerksamkeit in Unterhaltungsshows erniedrigen lassen. Die Gesichter dieser Menschen wirken auf eine beinahe sklavische Weise ergeben.
Ich habe das Foto damals aufbewahrt, weil es für mich auf zugespitzte Weise ein Menschenbild zum Ausdruck bringt, das sich unter dem Einfluss des Neoliberalismus und mit tatkräftiger Unterstützung der Massenmedien in den europäischen Demokratien während der letzten Jahrzehnte breitgemacht hat. Diese alten Männer, die vor laufenden Kameras halbnackt in Einkaufswägen steigen, spiegeln für mich auf makabre Weise den Zustand einer Gesellschaft, in der die Ideologie der entfesselte Märkte und des Konsums alles – und nicht zuletzt den Menschen immer mehr zur Ware reduziert hat.
Neben den Fotos der maskierten Demonstranten vom Tahrir-Platz wirken sie noch einmal so nackt. Es ist ihre passive Ergebenheit, dieser offensichtlicher Mangel an Bewusstsein für die Erniedrigung, der sie sich ausgeliefert haben, die nun noch vermehrt ins Auge springt und mich erschüttert. Diese Männer wehren sich nicht, sie lassen alles mit sich machen. Und es wird auch alles mit ihnen ge-macht. Auf meiner Pin-Wand werden sie plötzlich zum Gegenbild der ägyptischen Demonstranten.
2.
Mit dem Ende des Kalten Kriegs begann sich in Europa die Idee einer freien globalen Marktwirtschaft durchzusetzen, die weitgehend unabhängig von politischer Kontrolle agieren sollte. Die Politik suchte Heil in einem einzigen Ziel: dem wirtschaftlichen Erfolg. Auf jedes auftauchende Problem kannte sie eine einzige Antwort: den Markt. Nach der Wiedervereinigung wurde in Deutschland die Privatisierung ehemals staatlichen Eigentums vorangetrieben, die Prinzipien von Konkurrenz und ökonomischer Effizienz auf sämtliche Teilbereiche der Gesellschaft wie z.B. auf Universitäten oder Stadtverwaltungen ausgedehnt. Die Chance, dass Kritik an dieser Entwicklung gehört wurde, zum Beispiel von Intellektuellen und Künstlern, bestand kaum, denn jede Gegenwehr stand von vornherein unter Ideologieverdacht. Als hätte die Menschheit nach den gescheiterten Utopien des 20.Jahrhunderts endlich eine überlegene, nicht zu hinterfragende Warte hoch über aller Ideologie erklommen, die – wie man heute, mitten in der Finanzkrise nun langsam einsieht – selbst eine obendrein beschränkte, gefährlich unterkomplexe Ideologie darstellt. Man berief sich bevorzugt auf den schottischen Ökonomen Adam Smith aus dem 18.Jahrhundert und seinen berühmten Satz von der „unsichtbaren Hand“ des Marktes, wonach der „Eigennutz“ (also die pure Gewinnsucht) das Allgemeinwohl mehr fördere, als jede uneigennützige Einrichtung es jemals vermöchte. Dieser Satz wurde zum Leitspruch für eine neue ökonomische Unmoral, die vor nichts halten machte, schon gar nicht vor dem Geschäft mit der Kultur.
Zugleich sickerte das Marktdenken in die Köpfe der Kulturschaffenden selbst ein. Bücher z.B. wurden zunehmend als Konsumartikel begriffen. Nicht dass zeitkritische Literatur nicht mehr geschrieben oder gar verboten worden wäre. Sie wurde allerdings an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt, ihre öffentliche Wahrnehmung langsam erstickt, durch ein flächendeckendes kulturelles Entertainment-Programm ersetzt.
So muss leider gesagt werden: Derzeit lässt sich – zumindest in der deutschen Literaturlandschaft – kaum noch von einem Verhältnis zwischen Kultur und Politik sprechen. Denn die Schriftsteller sind unter den Bedingungen des heutigen Literaturbetriebs entweder reine Dienstleister einer Unterhaltungsbranche geworden, die sowohl Mainstream-Bedürfnisse abdeckt, als auch gegenwartsferne, pseudo-elitäre Kost für jene zur Verfügung stellt, die sich in einer Art Neo-Bürgerlichkeit eingerichtet haben. Oder sie sind auf eine kleine subkulturelle Öffentlichkeit zurückgeworfen, wenn sie an ihrem politischen Selbstverständnis festhalten.
Das Neue und Erstaunliche an diesem Verschwinden einer kritisch die Zeitläufte begleitenden Autorenschaft und der sie begleitenden Öffentlichkeit liegt darin, dass es nicht auf eine Zensur im engeren Sinn zurückzuführen ist. Eine Diktatur, die jede Kritik auszuschalten versucht und sie, wo sie nicht verstummen will, verfolgt, ist im demokratischen Europa nirgends vorhanden. Neu und erstaunlich ist vielmehr das Schleichende des Vorgangs, das stillschweigende Einverständnis, der Umstand, dass es reicht, sie in der Öffentlichkeit einfach nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen, wo sie doch einmal den Kopf zu heben wagt, um sie aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein zu streichen.
Auf den Fotos vom Tahrir-Platz an meiner Pin-Wand sieht man den Menschen ihre Empörung, ihren Mut und den Willen an, aufzustehen gegen ein Regime der Gewalt, der Unterdrückung, der Ungleichheit. Sie kennen den Gegner, sie können ihn bekämpfen. Die Menschen in Deutschland ähneln den alten Männern in den Einkaufswägen. Seit der Finanzkrise, seit ganze Staaten bankrott zu gehen drohen, ist die Stimmung in der Bevölkerung schlecht, aber Angst und Apathie sind eher noch gewachsen. Es gibt kein politisches Regime, das man direkt und ausschließlich für die Misere verantwortlich machen könnte. Zu Recht sprachen Politiker in den vergangenen Monaten immer wieder davon, dass Finanzindustrie und Wirtschaft die Politik vor sich hertreiben. Die Finanzkrise ist eine Krise des Systems. Die Politik trägt insofern Schuld daran, als sie in der Vergangenheit die Schleusen zur Aushöhlung der Demokratien durch den entfesselten Kapitalismus selbst geöffnet hat. Inzwischen scheint der Aushöhlungsvorgang fortgeschritten und die Macht der demokratisch legitimierten Regierungen so weit untergraben, dass sie kaum noch in der Lage scheinen, die Schleusen wieder zu schließen.
Aber es gibt nicht nur keinen klaren Gegner, sondern es fehlt auch jede ernsthafte intellektuelle Debatte, die sich diesem prekären Prozess einer Entdemokratisierung der Demokratie stellen würde. Stattdessen finden im Fernsehen Talkshows statt, wo Moderatoren dafür sorgen, dass die Diskussionen nie über eine oberflächliche Annäherung an isolierte Symptome hinausgehen. Nirgends werden die Symptome noch zusammengedacht, sondern nach dem medialen Gießkannenprinzip verstreut, so dass sich keiner mehr auskennt. Eine lebendige Demokratie setzt aber voraus, dass gesellschaftliche und politische Prozesse verstanden werden, dass das Interesse an ihnen wachgehalten wird. Die sogenannte Politikverdrossenheit, die in Deutschland seit vielen Jahren beklagt wird, ist in der Tat Ausdruck einer tiefen kulturellen Krise.
3.
Zweifelsohne steht diese kulturelle Krise in engem Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Einsickern des Marktdenkens in den Kulturbetrieb, der mittlerweile restlos von ihm durchdrungen ist. Der italienische Schriftsteller und Filmemacher Pier Paolo Pasolini war in den siebziger Jahren einer der ersten, die den Wandel der westlichen Demokratien zu Konsumgesellschaften in seinen „Freibeuterschriften“ als historisch neue Form eines repressiven Systems beobachtet und beschrieben hat. Dieser Wandel zeigte sich ihm unter anderem in einer „kulturellen Mutation“. Ein einziger Kulturtyp, so schrieb er, sei im Begriff an die Stelle der gewachsenen Kulturtypen verschiedener sozialer Schichten und Milieus zu treten. Der neue Typ von Kultur sei gekennzeichnet durch einen „klassenübergreifenden Hedonismus“ und eine permissive „Schein-Toleranz“, die keine andere Ideologie als die des Konsums neben sich duldet. In ihm werde nur noch eine, die einzige „Sprache der gesamten technologischen Welt“ gesprochen, die der bebilderten Slogans. Unter diesem System führt die Politik nach Pasolini nur noch Scheingefechte, während „hinter dem Rücken aller Beteiligten“ die neuen Mächtigen, eine Allianz aus Finanzindustrie und Massenmedien, für die nichts als jener nach Adam Smith so wohltätige Eigennutz des Profits zählt, den sozialen und kulturellen Totalumbau vorantreiben.
In diesem Zusammenhang ist ein Artikel bemerkenswert, der vor etwas über einen halben Jahr in einer anderen großen deutschen Tageszeitung erschienen ist. Darin wird das Verschwinden des politisch denkenden Schriftstellers beklagt, seine Rückkehr gefordert. Bemerkenswert ist dieser Artikel unter anderem, weil er aus der Feder Frank Schirrmachers stammt. Schirrmacher wurde Anfang der neunziger Jahre Chef des Literaturressorts dieser Zeitung, das als die maßgebliche literaturkritische Instanz Deutschlands gilt, bevor er zum Zeitungsherausgeber aufstieg. Entsprechend maßgeblich war er während der letzten zwanzig Jahre daran beteiligt, zeitkritische Schriftsteller aus der literarischen Öffentlichkeit hinauszudrängen. In dem Artikel gibt er das sogar unumwunden zu. Bemerkenswert ist außerdem die Sprache, in der es das tut. Wenn Schirrmacher schreibt, dass die Dominanz kritischen Engagements gebrochen werden musste, weil „die Monopolstellung des Produkts einfach zu groß“ gewesen sei, zeigt das, wie tief das ökonomische Denken in den Bereich der Kultur, wo es nun einmal nichts zu suchen hat, eingedrungen ist.
Frank Schirrmacher aber ist durch diesen Verdrängungsvorgang selbst zur diskursbestimmenden Macht in der deutschen Kultur geworden. Er und eine Handvoll Kollegen aus anderen Zeitungsver-lagshäusern wählen nach ihrem Zweck und Gutdünken Schriftsteller als intellektuelle Reitpferdchen aus und lassen sie laufen. So ist ein Anpassungsdruck entstanden, der die Autoren unter die Dressur von zwei bis drei konkurrierenden Rennställen zwingt. Was Wirtschaft und Finanzindustrie heute mit der Politik machen, macht der Kulturbetrieb mit den Kulturschaffenden: er treibt sie vor sich her.
Bemerkenswert schließlich ist, dass Schirrmacher, nachdem die öffentliche Existenz einer zeitkriti-schen Autorenschaft de facto abgeschafft ist, sich nun nach ihr zurücksehnt. Als wäre ihm plötzlich klar geworden, dass die vollständige Auslagerung der intellektuellen Auseinandersetzung aus den Köpfen der Kulturschaffenden unmittelbar in den Kulturapparat selbst inzwischen auch die Existenz des Apparats gefährdet. Die Geste, mit dem er in seinem Artikel auftritt, ist allerdings signifikant: Schirrmacher behält seine Machtposition als Herr des Diskurses bei. Hinter seiner Forderung nach einer politischen Literatur verbirgt sich der Versuch, eine neue, diesmal politische Abteilung in sei-nem Rennstall zu eröffnen.
Schirrmacher aber übersieht zwei wesentliche Dinge:
Eine Reanimation des Politischen in der Kultur wird nicht so einfach aus seinem Journalistenärmel zu schütteln sein. Denn eine Kultur, die seit zwanzig Jahren immer mehr darauf getrimmt wurde, den Zusammenhang zwischen gelebter gesellschaftlicher Wirklichkeit und ästhetischer Reflexion zu vergessen, hinterlässt Spuren in den Köpfen der Menschen, worin mittlerweile, wie Nietzsche schrieb, „eine Gewöhnung, die wirklichen Dinge nicht mehr ernst zu nehmen“ stattgefunden hat.
Die Abkoppelung des Kulturbetriebs von den Kulturschaffenden und die Fremdsteuerung ihrer kulturpolitischen Funktionen ist selbst Teil der kulturellen Krise, die aus Kunst und Kultur ein ebenso seichtes wie profitables Event- und Entertainment-Geschäft gemacht hat.
4.
Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde der Unterschied zwischen Demokratie und Kapitalismus eingeebnet. Sie wurden behandelt, als wären sie ein und dasselbe. Oder als wäre der Kapitalismus das Herz der Demokratie. Das Herz der Demokratie aber ist die Gewaltenteilung, die gegenseitige Kontrolle und Beschränkung der Mächte, ihr Gleichgewicht. In den westlichen Demokratien hat ein historisch neuartiger Verbund von Wirtschafts- und Medienmacht dieses System der demokratischen Gewaltenteilung unterlaufen. Seine Macht strahlt aus in alle Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens. Heute zeigen sich die Folgen.
Demokratien brauchen einen Kultur- und Bildungsbegriff, der sich die Befähigung seiner Bürger zur kritischen Reflexion ihrer gesellschaftlichen Zeitgenossenschaft zum Zielpunkt setzt. Er zählt zu den unabdingbaren Grundlagen der Demokratie. Alles, was diese Grundlagen zerstört, ist demokratie-feindlich. In den europäischen Demokratien wird es darum gehen müssen, den neuen Herrschaftstyp aus Ökonomie und Massenmedien in eine neue Struktur der Gewaltenteilung einzubinden, von der Montesquieu noch keine Vorstellung haben konnte. Allenthalben versuchen politisch wache Kulturschaffende, die es jenseits der großen öffentlichen Aufmerksamkeit selbstverständlich weiterhin gibt, das Problembewusstsein für die gegenwärtige Demokratiekrise zu schärfen. Doch um sich überhaupt wieder bemerkbar zu machen, werden sie erst ihren Platz in der Öffentlichkeit zurückzuerobern müssen.
gehalten auf englisch im Goethe-Institut Kairo am 7.Dezember 2011