Fünf Beiträge aus fünf Jahren "Fernschreiber"

Für den "Zündfunk", das Szene-Magazin auf Bayern 2

System Restrisiko

Da sind sie wieder. Die Bilder, vor denen man fassungslos gesessen hat vor zwei Jahren. Immer noch einmal musste man sie anschauen, diese flache, sonnige Küstenlandschaft mit den weißen, spitz zulaufenden Türmen, den Würfeln der Reaktorblöcke dazwischen, dem Rauchpilz darüber. Dann die Gerippe der zerstörten Gebäude, die verbogenen Träger der Stahlmäntel, das Gestrüpp der Eisenstreben, an denen die Betontrümmer hängen, die Reste der himmelblau getigerten Fassaden.

Tsunami, Explosion, Kernschmelze.

Man kennt noch jedes Detail, als hätte man nie aufgehört, hinzustarren. Die Wiederholung der Ereignisse in den Zeitungen, auf den Bildschirmen erzeugt eine Rückkoppelung in meinem Kopf, wo die Bilder längst eingebrannt sind, sich mit Macht zurückmelden.

Was machen diese Bilder eigentlich mit uns?

Ich merke, wie Schrecken und Gewöhnung sich sonderbar vermischen. Sie kämpfen miteinander, aber so, als soll der Kampf gar nicht entschieden werden. Es ist vorbei, sagt etwas in mir – und gleichzeitig: es wird nie vorbei sein. Ein Teil meines Bewusstseins will Distanz schaffen, drängt das Geschehene ins Historische ab, versachlicht es; der andere Teil richtet sich ein in der dauerhaften Bedrohung.

Der Effekt verstärkt sich bei der Präsentation des aktuellen Faktenstands. Auf der einen Seite gibt es Reportagen über die verseuchten Gebieten, über Mutationen bei Tieren, verstrahlte Fische, Medienberichte über die vorsätzliche Verharmlosung der Katastrophe durch den Fukushima-Konzern. Auf der anderen Seite veröffentlicht die Weltgesundheitsorganisation WHO ihren Untersuchungsbericht zu den Folgen des GAUs, wonach kein dramatischer Anstieg von Krebserkrankungen nachzuweisen sei. Nach heftigen Protesten im September 2012 wurde der Atomausstieg bis 2030/2040 beschlossen. Ein paar Monate später haben die Japaner mit Shinzo Abe einen Ministerpräsidenten gewählt, der all das wieder rückgängig machen, sogar neue AKWs bauen will.

Die Gegensätzlichkeit der Botschaften spiegelt die Schizophrenie einer Weltpolitik, die gefangen ist in einem System des zwanghaften Wirtschaftswachstums. Und sie überträgt diese Schizophrenie auf jeden Einzelnen. Denn das System will, muss schließlich weitermachen. Also braucht es unser Einverständnis.
Der entfesselte Kapitalismus operiert generell mit Restrisiken. Das offenbart auch die gegenwärtige Finanzkrise überdeutlich. Er beabsichtigt keine Verwüstungen, er beteuert, dass er mit allen Mitteln verhindern werde, dass sie eintreten, aber er nimmt sie als Möglichkeit in Kauf.

Die Kernenergie mit ihren wiederkehrenden Katastrophen ist dafür nur sichtbarstes Zeichen. Dass ausgerechnet die Regierung Merkel unter dem Eindruck von Fukushima den Atomausstieg beschloss, war erstaunlich und ist zu würdigen. Andernorts setzt man ungebrochen weiter auf Kernkraft. Doch auch hierzulande nimmt der Druck spürbar zu. Wachstum braucht Energie. Mit dem Fracking, bei dem mittels Tiefenbohrungen Flüssigkeit und chemische Substanzen in den Boden eingepresst werden, um Gas und Öl zu gewinnen, steht die nächste gefährliche Technologie ins Haus.

Es wird also weiterlaufen, das System Restrisiko.

Und wir werden dann erneut auf diese Bilder starren, wenn es zu dem gekommen sein wird, was angeblich außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit lag. Und uns einen Moment lang fragen: Hört das denn nie auf? Bevor wir gemeinsam mit Politikern, Konzernbossen und Medienmachern wieder zur Tagesordnung übergehen.

zu „zwei Jahre nach Fukushima“, März 2013

Mehr oder weniger

Das digitale Universum: endlose Ketten aus Nullen und Einsen, ein gigantischer Schaltkreis: an, aus – aus, an. Der Computer: ein Raumschiff. Ich: sein Commander.

Auf dem Weg durch die unendlichen Weiten virtueller Galaxien, suche ich nach Welten, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat.

Und lande vor einem Infoscreen, er unterhält mich mit Werbespots. Jemand schnürt seine Chucks. Als die Schleife gebunden ist, hängen die Senkel weiterhin auf den Boden herab. Nach der zweiten Schleife sind die Senkel immer noch zu lang. Im Zeitraffer wachsen immer mehr Schleifen zu einem Schleifenturm auf dem Schuh. Ein Schriftzug erscheint: „Mehr ist mehr“.

Ich muss lachen. Weniger über den Slapstick, mehr über das, was Sigmund Freud den „Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“ genannt hat.
An der Oberfläche hat der Kampf mit der grotesken Überlänge von Schnürsenkeln etwas Lustiges, Originelles, von dem mir gesagt wird: dass es mehr sei. Von was? Längst habe ich vergesse, für welches Produkt hier Reklame gemacht wird, doch ist mir klar, dass es für sich dieselbe Originalität beansprucht.
Auf ihrer Kehrseite verrät diese Werbung die Lächerlichkeit und Erbärmlichkeit des von ihr suggerierten Mehrwerts. Denn in Wahrheit ist die verzweifelte Anstrengung mit den meterlangen Senkeln natürlich durch und durch absurd. Obendrein raubt sie Zeit, Nerven, vermutlich den Verstand. Es ist ein Mehr, das in Weniger umschlägt. In ein Weniger an Sinn, Orientierung, Freiheit.

Ich lese den Spot als unfreiwillige Parabel auf das bizarre Wuchern eines sich unaufhaltsam ausdehnenden Mehr an Informationen in der immer dichter geknüpften digitalen Matrix, die unsere Wirklichkeit durchdrungen hat. Meine „Enterprise“ irrt ständig durch dieses Labyrinth. Ich bin darin eingesperrt, muss unausgesetzt Schleifen binden, würde gerne abhauen. Wohin?

Die Avantgarde der Künstler in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts verband eine seltsam abstrakt anmutende Sehnsucht: Sie wollten ausbrechen aus exakt jenem binären Code, der heute als engmaschiges virtuelles Netz die alten Sterne verdunkelt: Null – eins, an – aus, ja – nein.

Rolf Dieter Brinkmanns Fotos von „Walk“- und „Don’t walk“-Ampeln zeugen davon ebenso wie Gilles Deleuzes und Felix Guattaris Ziel im „Anti-Ödipus“, jenen Vater-Mutter-Kind-Käfig zu sprengen, den sie „Triangulation“ nannten und der sich im Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Individuum nahtlos fortsetzt. Dazu entwarfen sie die Figur des „Schizo“, der unentwegt seine eigene Identität unterläuft, so dass er von nichts und niemandem zu fassen ist.
Jean Luc Godard, einer der Begründer des Autorenkinos, machte diese Rechnung auf: „Ich kann allein keine Filme machen, ich muss mehr als einer sein, um Filme zu machen, anders als die andern. Man müsste wenigstens zu zweit sein. Und vielleicht dann, wenn möglich, zu dritt. Ich habe eine Frau gefunden, eine Freundin, aber wir sagen uns: wir sind anderthalb. Anderthalb, weil wir nur die Hälfte von dreien sind. Das Problem meiner Firma ist, einen Dritten zu finden.“

Wenn ich im virtuellen Raum unterwegs bin, halte ich Ausschau nach einer Art Leuchten. Es stammt aus den Zwischenräumen der Raster. Dort hat sich unter anderem die Kunst angesiedelt. Schreibend versuche ich dieses Leuchten zu verstärken, das sich aus einem im digitalen Code nicht enthaltenen Wert speist. Für diesmal soll er „Plus eins“ heißen. Das Leuchten lässt sich wahrnehmen, nicht erklären.

Der Maler Gerhard Richter sagt: „Ein Bild, das ich erklären kann, ist ein schlechtes Bild.“

zu „Plus eins“, Februar 2012

Alles wächst

Alles wächst ständig, muss ständig wachsen. Die Wirtschaft wächst, der Fortschritt auch, Technologie, Medizin, Lebenserwartung wachsen. Hört das Wachstum auf, hört sich alles auf. Was nicht mehr wächst, muss eingehen, stirbt. Wachstum ist unhinterfragbar. Wir haben nichts, woran wir uns sonst klammern könnten. Wachstum ist die letzte Ideologie nach jeder Ideologie. Ist der letzte Glauben nach jedem Glauben, ist der Gott unserer Zeit.

Wir haben gelernt ihn anzubeten. Wir opfern ihm täglich, denn er duldet keine anderen Götter neben sich. Seine Drohungen verkünden ein Strafgericht ohne Gnade. Das Ende des Wohlstands, der totale Kollaps sind ihm keine Ammenmärchen.

Doch wenn wir tapfer unsere Gottesdienste abhalten, die Wachstumsorakel befragen, ihre Sprüche erfüllen, dann ist uns auch das Glück unserer Zeit verheißen. Konsumieren heißt das eifersüchtige Glück dieses eifersüchtigen Gottes, denn es duldet kein anderes Glück neben sich.

Wie jeder Gott hat auch der unsre seinen Widersacher. Wer ihm verfällt, muss Sühne leisten. Wer das Wachstum gefährdet, unser Glück bedroht, muss (wie die Griechen) vom Saulus zum Paulus werden.

Was aber, wenn der Mensch selber das Böse ist?

In dem Film „Die Matrix“ hat künstliche Intelligenz die Weltherrschaft übernommen. Seither hält sie die Menschheit in einer simulierten Realität gefangen. „Agent Smith“, der die Diktatur in der Matrix überwacht, rechtfertigt die totale Unterdrückung der Menschen so:

„Ich kam zu einer interessanten Entdeckung, seit ich in der Matrix bin. Es fiel mir auf als ich versuchte, eure Spezies zu klassifizieren: Ihr seid im eigentlichen Sinne keine richtigen Säugetiere. Jedwede Art von Säuger auf diesem Planet entwickelt instinktiv ein natürliches Gleichgewicht mit ihrer Umgebung. Ihr Menschen aber tut dies nicht. Ihr zieht in ein bestimmtes Gebiet und vermehrt euch und vermehrt euch, bis eure natürlichen Ressourcen erschöpft sind. Und der einzige Weg zu überleben ist die Ausbreitung auf ein anderes Gebiet. Es gibt noch einen Organismus auf diesem Planeten, der genauso verfährt - wissen Sie welcher? Das Virus. Der Mensch ist eine Krankheit. Das Geschwür dieses Planeten. Ihr seid wie die Pest.“

Für einen Augenblick, während der „Agent“ seine Sätze ins blutige Gesicht des Rebellen Morpheus raunt, wechselt man als Zuschauer die Seiten. Er hat recht, denkt man, wir folgen einer Maxime der Verwüstung, weil wir der Maxime des Wachstums folgen. Wir sind gezwungen, die Ressourcen zu plündern, weil wir immer weiter dieses absurde Wachstum vorantreiben, ohne das unser ganzes auf eben dieses Wachstum gebautes System zusammenbricht. Wir wissen, dass genau das geschehen wird, können aber gleichzeitig nicht aufhören, genau das herbeizuführen. Wir reden vom Klimawandel, vom Verschwinden der Regenwälder, vom Aussterben der Arten, vom Ausbluten ganzer Kontinente, Verarmen ganzer sozialer Schichten – und switchen dann zum Börsenbericht.

Aber kaum ist der Augenblick vorbei, hofft man wieder, dass Morpheus‘ Leute uns aus den Klauen der Matrix befreien.

Warum eigentlich?

Vielleicht haben wir uns einem falschen Gott ausgeliefert. Vielleicht verwechselt der „Agent“ uns mit ihm. Vielleicht sind wir doch noch etwas anderes als diese weltumspannende Irrlehre, die sich anschickt, den ganzen Erdball zu knechten. Vielleicht redet aus der Maske der Matrix der falsche Gott selber. Verrät uns, was er von uns hält. Mit uns vorhat.

Am 15.Mai 2011 begann in Spanien die Bewegung der „Empörten“ einen Platz in Madrid zu besetzen. Seit Wochen campiert die Occupy-Wall-Street-Bewegung im Finanzzentrum New Yorks. Für heute, während ich dies schreibe, sind weltweite Parallelaktionen angekündigt. Jetzt, während ich dies spreche, haben sie längst stattgefunden.

Regelmäßig kommen prominente Globalisierungskritiker in die Lagerstadt auf New Yorks Liberty Plaza. Auch Naomi Klein, Autorin des Antiglobalisierungsbuchs „No Logo“, redete dort kürzlich von Wachstum – allerdings demjenigen des Widerstands gegen den Wachstumswahn von Welthandel und Finanzindustrie.
Der Akzent ihrer Rede lag jedoch anderswo, nämlich beim Wurzeln schlagen. Gegen die flüchtigen Ereignisse der Gipfeltreffen von Politik und Weltwirtschaft müsse der Protest zu einer dauerhaften Einrichtung gemacht werden. Die Strategie, sich ein klares, unbewegliches Ziel wie die Wall Street zu suchen, sei ein kluger Weg.

„Wurzeln sind wichtig“, sagte Naomi Klein.

Vielleicht liegt hier der richtige Ansatz gegen eine Wachstumsreligion, die jede Bodenhaftung verloren hat.

zu „Wieviel Wachstum verträgt die Welt“, Oktober 2011

"Alles andere ist Ausflucht"

„Wenn man zu denken anfängt, beginnt man untergraben zu werden.“ schreibt Albert Camus.

Ist es möglich, ein Leben in letzter Konsequenz zu führen? Und worin bestünde diese Konsequenz? Im Festhalten an einmal erworbenen Überzeugungen? Die sich im Handumdrehen als Illusionen erweisen?

Was andererseits hält mich ab, Mitläufer zu werden, mich blindlings den Gegebenheiten anzupassen? Wenn doch sowieso jedes noch so moralisch hehre Ziel alsbald an seine Grenzen stößt, sich selbst widerlegt?

Mein Nachdenken bewegt sich sofort auf einem extrem dünnen Grat. Es ist ständig in Gefahr abzustürzen oder sich zu retten, durch einen Sprung auf sicheres Terrain. Aber was wäre das: Sicheres Terrain? Gott? Die Moral? Der Pragmatismus?

Immer wieder im Leben stehe ich wie von selbst vor den elementaren Fragen: Wie soll ich weitermachen? Soll ich überhaupt weitermachen? Angesichts des absurden Stillstands, den man Geschichte nennt? Ist es heutzutage nicht lächerlich, die Sinnfrage zu stellen? War sie jemals nicht lächerlich? Albert Camus, der vor fünfzig Jahren bei einem Autounfall starb, Autor des „Fremden“, der „Pest“, des „Ersten Menschen“, hat zwei schmale philosophische Bücher verfasst. Ich komme immer wieder auf sie zurück.

„Der Mythos von Sisyphos“ beginnt mit dem Satz: „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.“ Für Camus ist der Mensch außerstande, die Welt zu deuten und zu rechtfertigen: „Aus diesem Verstoßen-sein gibt es für ihn kein Entrinnen“, nur ein Ausweichen in die Religion, die Idee, die Zerstreuung. Oder eben in den Tod. Das philosophische Problem lautet, ob Flucht nicht die einzige mögliche Antwort ist auf die Absurdität des Daseins. Camus lehnt jedes Entkommen als Selbsttäuschung ab, will mit dem Absurden leben, festhalten an dem, „was mich vernichtet“. Was bleibt, wenn Erlösung ebenso unmöglich ist wie letzte Lösungen, nennt er Revolte. „Die Redlichkeit besteht darin, sich auf diesem schwindelnden Grat zu halten, alles andere ist Ausflucht.“ Das Sinnbild, das er für diese Haltung wählt, ist Sisyphos, eine Figur aus der griechischen Mythologie. Unablässig wälzt Sisyphos seinen Felsen auf einen hohen Berg. Kaum oben angelangt, rollt der Fels wieder zu Tal, und Sisyphos beginnt von neuem. Das Buch endet mit dem Satz: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

„Der Mensch in der Revolte“ beschäftigt sich mit den Grenzen der nie endenden Auflehnung. Im Widerstand gegen die Absurdität von Macht und Irreführung, von Ausbeutung, Unterdrückung, Entfremdung schließen Menschen sich zusammen, entwickeln Konzepte für ein freieres Dasein, kämpfen dafür. Es geht um Politik, darum, wie weit sie gehen darf, um ihre Ziele durchzusetzen. „In der Zeit der Ideologien muss man sich mit dem Mord auseinandersetzen“, schreibt Camus. Seine Position ist eindeutig: Kein Ideal rechtfertigt, dass auch nur ein einziger Mensch dafür geopfert wird. Absurdität herrscht überall, wo die Freiheit des Individuums beschnitten, Gerechtigkeit gebeugt wird.

In letzter Konsequenz ist für Camus die Revolte gegen das absurde Dasein immer der uneingeschränkte Einsatz für den Einzelnen. Darüber und über den Einmarsch der Roten Armee 1956 in Ungarn kam es zum Zerwürfnis mit Jean-Paul Sartre, dem anderen Denker des französischen Existenzialismus. Sartre und die Sozialisten forderten uneingeschränkte Solidarität mit dem Sowjetregime um der kommunistischen Sache willen. Camus verurteilte die blutige Niederschlagung des Aufstands und war von da an aus ideologischen Gründen isoliert.

Es geht vor allem darum, die Sicherheiten und Überzeugungen immer wieder auf den Prüfstand zu heben, die eigenen Illusionen zu durchschauen, den Widerstand nicht aufzugeben. In letzter Konsequenz gilt es Balance zu halten zwischen Revolte und Gerechtigkeit, die immerwährende Vorläufigkeit des eigenen Urteils ebenso wenig aus den Augen zu verlieren wie die Fragwürdigkeit jedes angemaßten Rechts. Wenn es uns misslingt, tragen wir selber die Folgen.

Albert Camus fand auch dafür ein Sinnbild in der griechischen Mythologie: „Nemesis wacht, die Göttin des Maßes, nicht der Rache. Alle, die die Grenzen überschreiten, werden von ihr unerbittlich bestraft.“

zu „In letzter Konsequenz“, März 2010

Auf dem Drahtseil

Ich bin und tue am liebsten genau, was ich bin und tue. Ich versuche Schriftsteller zu sein.

Aber kaum ist der ebenso spontane wie schlichte Gedanke ausgesprochen, klingt er mir so blöd wie: am liebsten wäre ich ein Topf.

Schreiben ist eine Lebensform. Ich habe mir gewünscht, Künstler zu werden. Zuerst Musiker, dann Schriftsteller. Es hat geklappt.
Seitdem versuche ich Schriftsteller zu bleiben.

Was im Wunschtraum als immerwährender, ruhig fließender, lustvoller Denk- und Schreibprozeß erscheint, ist in der Praxis eine permanente Abwehr innerer und äußerer Gefährdungen dieses Prozesses. Dinge wie Kitsch, Routine, Marktdenken.

„So bin ich unversehens ein Landschaftsmaler geworden. Es ist entsetzlich.“ Das ist der erste Satz aus der Erzählung „Nachkommenschaften“ von Adalbert Stifter, der sich später mit dem Rasiermesser an die Gurgel ging.

Ist mein liebste Lebensform entsetzlich?

Sie ist jedenfalls paradox in ihrem unaufhörlichen Wechsel zwischen Zweifel, Scheitern, glücklichem Gelingen. Manchmal leicht, manchmal verbissen, meistens Arbeit, Disziplin. Ein präzises, melancholisch zärtliches, wütendes, oft deprimierendes sich in Beziehung Setzen zur Welt.
Das Liebste als das Entsetzlichste und umgekehrt.

Ein Paradoxon ist die Formulierung einer Wahrheit in Gestalt einer Unmöglichkeit.

Meine liebste Lebensform ist selber eine einzige Unmöglichkeit.

Ich habe ein Ideal vom Schreiben. Ich möchte von der Wirklichkeit erzählen. Aber wie geht das? Die Frage scheint simpel. Man lebt schließlich in ihr, bewegt sich durch sie hindurch, teilt Raum und Zeit. Davon zu berichten, das Dasein in Geschichten zu packen, kann doch mit etwas Talent und Handwerk, möchte man glauben, nicht so schwer sein.

Andererseits die Erfahrung einer unüberwindlichen Begrenztheit des subjektiven Realitätssinns: Jeder Mensch in seiner eigenen Welt, eingesperrt in die Enge seiner Wirklichkeitsausschnitte und persönlichen Auffassungsgabe; das Lärmen all dieser Wirklichkeiten wiederum Teil der Wirklichkeit, unüberschaubar, zufällig, chaotisch.

Um durchs Leben zu kommen, sind wir gezwungen, die Welt zu deuten. Aber Weltdeutungen sind immer Fälschungen, beruhen auf Missverständnissen.
Der Mensch ist „ein Tier ohne Ahnung“, das durch eine „dunkle Welt“ irrt, sagt Alfred Döblin.

David Foster Wallace sagt: Erzählen ist ein Drahtseilakt über dem Abgrund des Nichts.

Meine liebste Lebensform ist ein Drahtseilakt.

„Murphy“, im gleichnamigen Roman von Samuel Beckett, sitzt nackt auf einem Schaukelstuhl. „Sieben Schals hielten ihn fest. Zwei fesselten die Schienbeine an die Stuhlkufen, einer seine Oberschenkel an den Sitz, zwei die Brust und den Bauch an die Rückenlehne und einer seine Handgelenke an die hintere Querstange. Es waren nur äußerst begrenzte örtliche Bewegungen möglich. Schweiß brach ihm aus allen Poren und straffte die Gurte.“ Murphy verabscheut Geräusche von draußen, „sie hielten ihn in jener Welt gefangen, zu der sie gehörten, er jedoch nicht, wie er töricht genug hoffte.“ Dann die ungeheure Wendung: „Er saß so in seinem Stuhl, weil es ihm Spaß machte! … solchen Spaß, daß Spaß nicht das richtige Wort ist.“

„Bartleby, der Lohnschreiber“, in der gleichnamigen Erzählung von Herman Melville, ist in einer Anwaltskanzlei in der Wall Street angestellt. Er schreibt akribisch Akten ab, verweigert aber jede auch nur im Geringsten davon abweichende Arbeit. Je öfter er dazu aufgefordert wird, desto radikaler klingt seine immer gleiche Antwort: „I prefer not to“; ich möchte lieber nicht. Bald verläßt er seinen Arbeitsplatz auch nachts, auch am Wochenende nicht mehr. Schließlich steckt man ihn ins Gefängnis, wo er lieber nicht isst und verhungert.

Ich mag Murphy und Bartleby. Die beiden haben eine Menge mit meiner liebsten Lebensform zu tun. Nicht daß diese Lebensform Ähnlichkeit mit diesen Geschichten hätte. Trotzdem erzählen die Geschichten genau das über sie, was nur solche Geschichten ausdrücken können.

In meinem Ideal vom Schreiben tragen Geschichten über den lärmenden Abgrund der Missverständnisse und Fälschungen hinweg.

Meine liebste Lebensform ist die Sprache, der Klang.

zu „Meine liebste Lebensform“, März 2009

Rundfunkbeiträge, teilweise abgedruckt in "Kleine Transporter"